…erweist sich die Konstanzer Inszenierung von Franziska Autzen als überraschend aktuell. In ihrer Fassung konzentrieren die beiden Bearbeiterinnen (neben der Regie die Dramaturgin Hannah Stollmayer) ganz auf die Geschichte der „Katharina Blum“, die hier nicht wie bei Böll als Rückblende erzählt wird, sondern linear. Schon im Titel ist „die verlorene Ehre“ gestrichen. Autzen und Stollmayer setzen stattdessen auf den Satz aus dem Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Was vorgeführt wird, ist das Gegenteil: die Missachtung der Würde. Aber mehr noch wird die Autonomie eines Menschen – und nicht nur die einer Frau wie Katharina Blum – angetastet.
… „Katharina Blum“ aus dem Kontext der Zeitgeschichte zu holen, gelingt nicht nur durch den – schon bei Böll angelegten – Transfer in parabelhafte Strukturen, sondern mehr noch durch einen inszenatorischen Kniff: Die vier Spielerinnen und Spieler agieren in einer Einheitskleidung (Bühne und Kostüme: Ute Radler) mit kleinen Variationen. Die Grundfarbe der Kostüme ist mit Grautönen durchmischtes ein Blau. Alle tragen rote Socken und dunkle Sportschuhe. Aber mehr noch: Es gibt keine Rollenaufteilungen.
… Die Vier bilden ein spannendes Ensemble, das auf verschiedenen Ebenen gemeinsam die Geschichte der Katharina Blum erzählt.
… Das Ensemble führt in bedrängenden Bildern vor, was mit Menschen passiert, die ungeschützt von einer Öffentlichkeit gehetzt werden, denen man die Würde und das Recht auf Selbstbestimmung nimmt. Es gilt das grundlegende Prinzip des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ stets zu verteidigen.
Manfred Jahnke, Die deutsche Bühne online, 5.3.2022
Die größere Bedrohung für die psychische Gesundheit kommt aus sogenannten sozialen Medien. Regisseurin Franziska Autzen scheint sich dessen bewusst zu sein, reißt den Plot aus seinem konkreten Rahmen von Ort und Zeit, überträgt ihn in einen schwarzen Kunstraum (Bühne: Ute Radler).
… Denn die Meute, die hier inspiziert, spekuliert und aburteilt, ist weder Polizei noch Gerichtsbarkeit. Es ist die Realität eines digitalen Raums, in dem Zuständigkeiten und Rechtsbereiche auf merkwürdige Weise entgrenzt, aufgehoben sind. Was ein Ermittler ist, was ein Richter und wo das Publikum sitzt: Das alles löst sich auf in einer weder be- noch angreifbaren Öffentlichkeitswolke.
… Die vier Schauspieler nehmen die Herausforderung einer kollektiven Textlektüre bei wechselnden Rollen gleichwohl lustvoll an. Insbesondere Sebastian Haases bissige Interpretation zwischen Arroganz und Weinerlichkeit changierender Männertypen gefällt.
Johannes Bruggaier, Südkurier, 5.3.2022
Dem angekündigten Schuss gehen treffsichere Salven verbaler Gewalt voraus: Bölls Text protokolliert sie nüchtern, auf der Bühne entfalten sie in wechselnder Tonlage ihre Niedertracht und Gefährlichkeit – dies umso mehr, als die Regie sie keinem auf der Bühne erspart. Schon 1974 war Katharina Blum nur ein Beispiel, ein in die Enge getriebenes Opfer, das den Spieß umdreht. Jeder könnte in ihre Lage geraten, jede als „Rotsocke“ diffamiert werden – das unterstreicht die Einheitskluft auf der Bühne (Ausstattung: Ute Radler). Franziska Autzen projiziert die Wortkeulen (…) riesengross als Laufbandtext. …und blendet auch in die ersten Reihen des Zuschauerraums… …Der Schuss hat da am Ende durchaus etwas Befreiendes.
Bettina Kugler, St.Galler Tagblatt, 5.3.2022