Auszug aus dem Interview des Magazins akzent (Stefanie Göttlich) mit Regisseurin Susanne Schmelcher und Musikerin Svea Kirschmeier
Das vollständige Interview ist nachzulesen in der Dezember 2023 Ausgabe des akzent Magazins
Stefanie Göttlich:„Antigone“ ist Weltliteratur und wird entsprechend oft aufgeführt. Wie sehr beeinflussen einen andere Inszenierungen? Wie schafft man es, sich eine eigene Herangehensweise zu bewahren?
Susanne Schmelcher: Von dem Zeitpunkt an, an dem ich weiß, dass ich eine Inszenierung machen werde, vermeide ich es immer, mir andere Inszenierungen des Stückes anzuschauen, damit ich mir nicht unterbewusst etwas einpräge, das ich dann nicht mehr anders denken kann. Aber man muss ohnehin für jeden Text einen eigenen Zugang finden, wie man ihn in dieser Zeit, an diesem Ort und mit den jeweiligen Spielenden begreifen kann, egal ob Weltliteratur oder nicht.
Stefanie Göttlich: Bei Sophokles ist Theben der Ort des Geschehens. Wo siedeln Sie Ihre Inszenierung an?
Susanne Schmelcher: Bei uns spielt Antigone in einer dystopischen Zukunft, in der der Mensch sich durch Kriege und seine Art mit der Natur umzugehen, perspektivisch abschafft. Alles ist verwüstet im wahrsten Sinne des Wortes. Aber die Menschen in dieser Welt haben es auch perfektioniert so zu tun, als wäre alles in Ordnung, als hätte nicht gerade ein Krieg gewütet und die nächste Katastrophe würde nicht schon im Raum stehen. Oder vielleicht ist das auch keine dystopische Zukunft? Diese Frage habe ich mir bei unserem Probenstart kurz nach dem 7. Oktober auch einmal wieder stellen müssen. Im Prolog von Martin Walser heißt es so passend: „So kurz ein Leben, dann soll der Schlaf, der Appetit sich kränken lassen von Erinnerung?“
Stefanie Göttlich: Es gibt verschiedene Bearbeitungen des Stücks. Sie arbeiten mit der Fassung von Martin Walser, dem „Autor vom Bodensee“, der in diesem Jahr gestorben ist. Gibt es von Ihrer Seite noch Überschreibungen, schließlich ist Walsers Bearbeitung auch schon über dreißig Jahre alt?
Svea Kirschmeier: Vor allem für die Lieder haben wir die Texte überarbeitet und umgeschrieben. Vom Stil haben wir uns an der alten Sprache orientiert, nur manchmal haben wir rhythmisch passendere Worte gefunden.
Susanne Schmelcher: Und wir haben versucht unsere Deutung der Geschichte in den Liedern zuzuspitzen.
Stefanie Göttlich: Antigone handelt nach ihrem Gewissen, nimmt sogar den Tod in Kauf. Ist sie eine Figur des Widerstands oder/und ein Vorbild für Zivilcourage?
Susanne Schmelcher: Für mich repräsentiert Antigone eine Position im gesamten Gefüge eines Staates. Und zwar die radikalste. Antigone ist wie ein Stein, der auf Kreons Gesetz zurollt und beide prallen aufeinander. Antigone verweist auf einen Rechtsbruch des Staates, der dem Gesetz der Götter widerspricht – oder in heutigen Worten: seiner Verantwortung im Maßstab von Ewigkeit und Zukunft nicht gerecht wird. So rechtfertigt sie ihren zivilen Ungehorsam. Heute wäre Antigone vielleicht eine Klimaaktivistin der Letzten Generation. Und die anderen Figuren im Stück sind ebenfalls wichtige Positionen in diesem Staatsgefüge, da sie verschiedene Arten repräsentieren, mit Krisen umzugehen – der Weg des friedlichen Widerstandes, gemäßigtes Verhalten, Verdrängung, Streben nach dem eigenen Vorteil.
Stefanie Göttlich: Worauf ist der Konflikt Antigones mit Kreon zurückzuführen? Auf verschiedene Weltbilder, auf den Kampf zwischen Moral und Macht oder geht es im Stück auch um den „Geschlechterkampf“?
Svea Kirschmeier: Nach wie vor sind alte weiße Männer global gesehen an der Macht und es ist traurig, dass sich seit Sophokles nicht bahnbrechend viel in dieser Hinsicht geändert hat. Macht verändert Menschen und die Frage ist, an welchem Punkt sich Prioritäten verschieben. Kreon ist unserer Meinung nach nicht einfach der Böse. Selbst wenn er feststellt, dass er einen moralischen Fehler gemacht hat, bleibt er seinem System treu, um als Herrscher Stabilität, Loyalität und Gerechtigkeit dem Volk gegenüber auszustrahlen. An sich ein gutes Vorhaben.
Susanne Schmelcher: Für mich geht es bei Antigone auch nicht so sehr um Macht, sondern um Gesetz und Recht und darum, dass Gesetze in einer Demokratie immer wieder neu verhandelt werden müssen, wenn sie nicht mehr den aktuellen Gegebenheiten entsprechen.
Stefanie Göttlich: Frau Schmelcher, Sie erhielten 2021 den Kurt-Hackenberg-Preis für politisches Theater. Welche politische Relevanz sehen sie in diesem Tragödienstoff? Was kann „Antigone“ uns heute noch vermitteln?
Susanne Schmelcher: Da würde ich gerne direkt an meine vorherige Antwort anschließen. Antigone kann uns heute vielleicht dringlicher denn je vermitteln, wie träge eine Gesellschaft sein kann und dass Gesetze manchmal nicht schnell genug an unsere heutigen Herausforderungen angepasst werden können. Aus meiner Sicht ist das in vielen Dingen so, virulentes Beispiel ist da etwa der Klimawandel. Wann muss der Staat, die Regierung von ihrem bisherigen Weg abrücken und etwas verändern, damit den Dringlichkeiten der Belange Rechnung getragen wird. Angesichts der vielen Krisen, die auf uns zurollen, sind wir meiner Meinung nach in der Pflicht, unser Demokratieverständnis immer wieder neu zu überprüfen.
Stefanie Göttlich: Frau Kirschmeier, sie sind Musikerin, Schauspielerin und Performerin. Bei „Antigone“ haben sie die musikalische Leitung übernommen. Welche Rolle spielt die Musik in der Inszenierung?
Svea Kirschmeier: In solchen alten, klassischen Texten liegt oft eine große Schwere, die eventuell Menschen abschrecken kann. Unser Wunsch ist es durch gesungene Lieder mit elektronischer Begleitung eine weitere Ausdrucksweise zur Übermittlung von Emotionen und Stimmungen zu zeigen, die Texte auf andere Art einzubetten. Die Lieder bewegen sich zwischen Pop, Electro und Singer/Songwriter und sind von mir komponiert und produziert.
Stefanie Göttlich: Es gibt viele Tote im Stück, die Handlung ist düster. Unterstreicht Ihre Musik diese Stimmung oder öffnet sie neue Deutungsebenen?
Svea Kirschmeier: Die Musik ist düster, melancholisch, klingt aber auch nach Aufbruch und Widerstand. Also so, wie die Welt klingt, in der wir aktuell leben.
Stefanie Göttlich: Kann Tragödie auch lustig sein? Gibt es zwischendurch Momente, bei denen das Publikum in Konstanz lachen kann?
Susanne Schmelcher: Antigone ist wahrscheinlich auch deshalb zur Weltliteratur geworden, weil der Text nicht nur zentrale Konflikte zwischen Menschen abbildet, sondern auch das Leben an sich. Und da ist es dann ja auch häufig so, dass selbst in den schlimmsten Situationen wahnsinnige, witzige Momente erlebt werden. In Antigone betrifft das zum Beispiel die Figur des Boten, aber auch andere Szenen und Stellen, wo man aus der Sprache eine Komik entwickeln kann. Ich suche da auch in meiner Arbeit gerne gezielt nach den Schnittstellen. Das Tragische sticht oft dann noch mehr heraus, wenn es davor komisch war.
Stefanie Göttlich: Haben Sie den Wunsch, dass die Menschen nach dem Stück anders aus dem Theater rausgehen als sie reingekommen sind?
Susanne Schmelcher: Auf jeden Fall. Das ist mein Anspruch an unsere Arbeit am Theater. Dass Menschen nach dem Theaterbesuch angefüllt sind – mit neuen Impulsen, einem Gemeinschaftsgefühl, weil sie mit anderen eine Erfahrung geteilt haben. Dass man über Demokratie und Streitkultur nachdenkt oder auch, dass die Konflikte sinnlich erleb- und begreifbar werden, die man zuvor nur in der Zeitung gelesen hat.