24/11/23

STADTTHEATER

ABO

Antigone

von Sophokles

Übersetzung von Friedrich Hölderlin
In einer Bearbeitung von Martin Walser
Suhrkamp Verlag AG Berlin

Regie Susanne Schmelcher Bühne & Kostüme Franziska Smolarek Musik Svea Kirschmeier Dramaturgie Sabrina Toyen
Mit Ingo Biermann, Anne Rohde, Lilian Prent, Jasper Diedrichsen, Fynn Engelkes, Sarah Siri Lee König, Jana Alexia Rödiger
Dauer 1:30 Stunden, keine Pause

Der Krieg in Theben ist vorbei. Im Kampf um den Thron erschlugen sich die beiden Brüder Polyneikes und Eteokles gegenseitig auf dem Schlachtfeld. Ersterer zog als Verbannter gegen seine eigene Stadt, gegen seinen eigenen Bruder in den Krieg. Und nun verbietet der neue König Kreon, Polyneikes rechtmäßig beisetzen zu lassen. Vor den Toren der Stadt soll der Tote auf offenem Feld liegen bleiben, den Vögeln und Hunden zum Fraß. Antigone, seine Schwester, kann das nicht zulassen. Auch Polyneikes gebühre das Menschenrecht auf Bestattung. Dass jede Zuwiderhandlung gegen Kreons Befehl mit dem Tod bestraft wird, ist ihr egal. Kompromisslos stellt sie ihre Wertvorstellungen und Argumente Kreons Herrschaftslogik entgegen. Und der vollzieht erbarmungslos das Gesetz. Nichts und niemand kann ihn umstimmen. Der Streit spaltet Theben und führt zu noch mehr Toten.
Sophokles hat mit Antigone eine der wichtigsten Frauenfiguren der Theaterliteratur erschaffen, deren Schicksal wie kein anderes für den Konflikt des Individuums mit dem Staat steht. Susanne Schmelcher untersucht den antiken Stoff vor dem Hintergrund unseres heutigen Demokratieverständnisses, in dem Recht nicht gottgegeben oder von Autoritäten verordnet wird, sondern immer wieder aufs Neue kollektiv ausgehandelt werden muss. 

Termine und Tickets

November
Mittwoch, 22.11.2023 | 18:30 Uhr | Preview
Freitag, 24.11.2023 | 20:00 Uhr | Tickets | Premiere | Hier gilt das Kulturticket
Sonntag, 26.11.2023 | 18:00 Uhr | Tickets | Hier gilt das Kulturticket
Dienstag, 28.11.2023 | 20:00 Uhr | Tickets | Hier gilt das Kulturticket

Dezember
Freitag, 01.12.2023 | 19:30 Uhr | Vorstellungsausfall
Samstag, 02.12.2023 | 20:00 Uhr | Vorstellungsausfall
Dienstag, 05.12.2023 | 19:30 Uhr | Tickets | Einführung um 18:45 Uhr | Hier gilt das Kulturticket
Donnerstag, 07.12.2023 | 19:30 Uhr | Tickets | Einführung um 18:45 Uhr | Hier gilt das Kulturticket
Freitag, 08.12.2023 | 19:30 Uhr | Tickets | Einführung um 18:45 Uhr | Hier gilt das Kulturticket
Samstag, 09.12.2023 | 20:00 Uhr | Tickets | Einführung um 19:15 Uhr | Hier gilt das Kulturticket
Montag, 11.12.2023 | 11:00 Uhr | Schulvorstellung
Mittwoch, 13.12.2023 | 15:00 Uhr | Tickets | Einführung um 14:15 Uhr | Hier gilt das Kulturticket
Donnerstag, 14.12.2023 | 20:00 Uhr | Tickets | Einführung um 19:15 Uhr | Hier gilt das Kulturticket
Samstag, 16.12.2023 | 20:00 Uhr | Tickets | Einführung um 19:15 Uhr | Hier gilt das Kulturticket
Dienstag, 19.12.2023 | 19:00 Uhr | Geschlossene Veranstaltung | Einführung um 18:15 Uhr
Montag, 25.12.2023 | 20:00 Uhr | Tickets | Hier gilt das Kulturticket

Januar
Mittwoch, 10.01.2024 | 20:00 Uhr | Tickets | Einführung um 19:15 Uhr | Hier gilt das Kulturticket

Pressestimmen

Im abstrakten Spielraum von Franziska Smolarek – eine dreistufige Podestbühne, überzogen mit grauweißem Tuch voller schwarzer Signaturen – und zeitlosen Kostümen (ebenfalls Smolarek) – entfaltet die Regie von Schmelcher die Geschichte der Antigone.

… Ingo Biermann ist ein grandioser Kreon: am Anfang eitel von sich eingenommen, mit seinem Sohn dann kumpanenhaft Bier aus der Flasche trinkend. Am Ende ist er ein zerstörter Mann, der seine Familie verloren hat. Alle Männlichkeit zerfetzt, das spielt er groß aus.

… Rohde spielt die Todessehnsucht der Antigone leise aus. Sie ist keine Empörerin, sondern eher introvertiert. Dabei staunt sie darüber, wie das selbstverständliche Gebot außer Kraft gesetzt werden kann, ohne dass sich jemand dagegen regt.

… Auffällig hingegen agiert die Ismene der Lilian Prent, als Einzige dem Leben zugewandt. 

… „Tanzen ist besser als töten.“: Was Schmelcher/Kirschmeier aufzeigen, ist, wie mit dem Ende eines Krieges die Gesellschaft ihre Ziele demokratisch aushandeln müssen. Dazu war Kreon nicht bereit. Ob er nun als zerstörter Mann dazu bereit ist?

Manfred Jahnke, Die deutsche Bühne Online, 25.11.2023
 
 
Eingestreute Songs (Musik: Svea Kirschmeier) mit fatalistischen Kommentierungen des Menschen an sich geben dem Ganzen eine Brecht’sche Grundierung…
Darstellerisch kann vor allem Sarah Siri Lee König überzeugen. Wenn sie als Windelweiser augenrollend und lollilutschend von der Zukunft wie von einem Spielplatzabenteuer spricht…

Johannes Bruggaier, Südkurier, 27.11.2023
 
 
Eine „Antigone“ als Wüstenrave – Ein grossartiges Ensemble trägt den Klassiker…

Die Figuren greifen. Die zeitlose Geschichte wird lebendig. Wie Anne Rohde als Antigone mit grosser Klarheit und Sturheit ihrer Überzeugung folgt, wie sie trotz Konflikt an ihrer Schwester, an ihren toten Brüdern hängt, wie sie Kreon trotzt, wie sie mit ihrem Todesurteil ringt. Wie Ismene (Lilian Prent) um ihre Schwester Angst aussteht. Wie Kreon (Ingo Biermann) den Staat führen will, weil man eben so führt, und dann langsam die Erkenntnis in ihn sickert, dass er sich furchtbar geirrt hat. Wie Hämon (Fynn Engelkes) vorsichtig und immer bestimmter gegen seinen Vater aufbegehrt. Wie Tiresias (Sara Siri Lee König) die Wahrheit offenbart, denn er kann nicht anders. Das ist packend. Und berührend. Die alte Geschichte, sie ergreift uns noch heute.

Julia Nehmiz, Thurgauer Zeitung, 27.11.2023


Die Regisseurin kleidet Sophokles‘ antiken Stoff sprichwörtlich in neues Gewand und spricht mit dem Stück auch die Schrecken der Gegenwart an.

… gelingt es, den Bühnenhintergrund mit einem vor die Rückwand gespannten Stofftuch, das einen körnigen Filter auf die Projektionen legt, stimmungsvoll zu entrücken. Das erzeugt mystische, ja mythische, Bilder.

… Die Figur des Sehers Tiresias ist wahrlich das Highlight der Inszenierung. Statt eines allwissenden, vergreisten Eremiten, begegnet dem Publikum das scheinbar naive Kind mit dem Lolli aus der Hosentasche im Mund. Und Kindermund tut bekanntlich Wahrheit kund. Sara Siri Lee König vereinbart den Ausdruck kindlicher Unvoreingenommenheit mit messerscharfem Verstand. Tiresias spricht die bittere Wahrheit, die niemand hören möchte.

Auch Jasper Diedrichsen als Bote kommt die Aufgabe zu, schlechte Nachrichten zu überbringen. Er lässt das Publikum seine Angst vor unverdienten Konsequenzen förmlich spüren. Besonders berührend ist sein nachdenklicher ans Publikum gerichteter Monolog, während dem seine glänzenden Augen durch die Reihen wandern und den einen oder die andere eindringlich anblicken.

Ebenso eindringlich sind bisweilen die Gesangs- und Performanceelemente (Musikalische Leitung: Svea Kirschmeier). Sie nehmen rhythmisch und klanglich Stimmungen des Stücks auf und verstärken textlich die Bezüge des Stoffs zu unserer Lebenswelt. 

… Die sanfte, aber prinzipientreue Antigone, gespielt von Anne Rohde, bringt es mit Sophokles Worten auch ohne moderne Textergänzung auf den Punkt: «Nicht zu hassen, zu lieben bin ich da.» Sie appelliert an den Verstand ihrer Mitmenschen und wird doch nicht gehört.

Franziska Spanner, Saiten St. Gallen, 27.11.2023

Regisseurin Susanne Schmelcher und Musikerin Svea Kirschmeier im Interview

Auszug aus dem Interview des Magazins akzent (Stefanie Göttlich) mit Regisseurin Susanne Schmelcher und Musikerin Svea Kirschmeier
Das vollständige Interview ist nachzulesen in der Dezember 2023 Ausgabe des akzent Magazins 



Stefanie Göttlich:„Antigone“ ist Weltliteratur und wird entsprechend oft aufgeführt. Wie sehr beeinflussen einen andere Inszenierungen? Wie schafft man es, sich eine eigene Herangehensweise zu bewahren?

Susanne Schmelcher: Von dem Zeitpunkt an, an dem ich weiß, dass ich eine Inszenierung machen werde, vermeide ich es immer, mir andere Inszenierungen des Stückes anzuschauen, damit ich mir nicht unterbewusst etwas einpräge, das ich dann nicht mehr anders denken kann. Aber man muss ohnehin für jeden Text einen eigenen Zugang finden, wie man ihn in dieser Zeit, an diesem Ort und mit den jeweiligen Spielenden begreifen kann, egal ob Weltliteratur oder nicht.

 
Stefanie Göttlich: Bei Sophokles ist Theben der Ort des Geschehens. Wo siedeln Sie Ihre Inszenierung an?

Susanne Schmelcher: Bei uns spielt Antigone in einer dystopischen Zukunft, in der der Mensch sich durch Kriege und seine Art mit der Natur umzugehen, perspektivisch abschafft. Alles ist verwüstet im wahrsten Sinne des Wortes. Aber die Menschen in dieser Welt haben es auch perfektioniert so zu tun, als wäre alles in Ordnung, als hätte nicht gerade ein Krieg gewütet und die nächste Katastrophe würde nicht schon im Raum stehen. Oder vielleicht ist das auch keine dystopische Zukunft? Diese Frage habe ich mir bei unserem Probenstart kurz nach dem 7. Oktober auch einmal wieder stellen müssen. Im Prolog von Martin Walser heißt es so passend: „So kurz ein Leben, dann soll der Schlaf, der Appetit sich kränken lassen von Erinnerung?“


Stefanie Göttlich: Es gibt verschiedene Bearbeitungen des Stücks. Sie arbeiten mit der Fassung von Martin Walser, dem „Autor vom Bodensee“, der in diesem Jahr gestorben ist. Gibt es von Ihrer Seite noch Überschreibungen, schließlich ist Walsers Bearbeitung auch schon über dreißig Jahre alt?

Svea Kirschmeier: Vor allem für die Lieder haben wir die Texte überarbeitet und umgeschrieben. Vom Stil haben wir uns an der alten Sprache orientiert, nur manchmal haben wir rhythmisch passendere Worte gefunden.

Susanne Schmelcher: Und wir haben versucht unsere Deutung der Geschichte in den Liedern zuzuspitzen.

 
Stefanie Göttlich: Antigone handelt nach ihrem Gewissen, nimmt sogar den Tod in Kauf. Ist sie eine Figur des Widerstands oder/und ein Vorbild für Zivilcourage?

Susanne Schmelcher: Für mich repräsentiert Antigone eine Position im gesamten Gefüge eines Staates. Und zwar die radikalste. Antigone ist wie ein Stein, der auf Kreons Gesetz zurollt und beide prallen aufeinander. Antigone verweist auf einen Rechtsbruch des Staates, der dem Gesetz der Götter widerspricht – oder in heutigen Worten: seiner Verantwortung im Maßstab von Ewigkeit und Zukunft nicht gerecht wird. So rechtfertigt sie ihren zivilen Ungehorsam. Heute wäre Antigone vielleicht eine Klimaaktivistin der Letzten Generation. Und die anderen Figuren im Stück sind ebenfalls wichtige Positionen in diesem Staatsgefüge, da sie verschiedene Arten repräsentieren, mit Krisen umzugehen – der Weg des friedlichen Widerstandes, gemäßigtes Verhalten, Verdrängung, Streben nach dem eigenen Vorteil.


Stefanie Göttlich: Worauf ist der Konflikt Antigones mit Kreon zurückzuführen? Auf verschiedene Weltbilder, auf den Kampf zwischen Moral und Macht oder geht es im Stück auch um den „Geschlechterkampf“?

Svea Kirschmeier: Nach wie vor sind alte weiße Männer global gesehen an der Macht und es ist traurig, dass sich seit Sophokles nicht bahnbrechend viel in dieser Hinsicht geändert hat. Macht verändert Menschen und die Frage ist, an welchem Punkt sich Prioritäten verschieben. Kreon ist unserer Meinung nach nicht einfach der Böse. Selbst wenn er feststellt, dass er einen moralischen Fehler gemacht hat, bleibt er seinem System treu, um als Herrscher Stabilität, Loyalität und Gerechtigkeit dem Volk gegenüber auszustrahlen. An sich ein gutes Vorhaben.

Susanne Schmelcher: Für mich geht es bei Antigone auch nicht so sehr um Macht, sondern um Gesetz und Recht und darum, dass Gesetze in einer Demokratie immer wieder neu verhandelt werden müssen, wenn sie nicht mehr den aktuellen Gegebenheiten entsprechen.


Stefanie Göttlich: Frau Schmelcher, Sie erhielten 2021 den Kurt-Hackenberg-Preis für politisches Theater. Welche politische Relevanz sehen sie in diesem Tragödienstoff? Was kann „Antigone“ uns heute noch vermitteln?

Susanne Schmelcher: Da würde ich gerne direkt an meine vorherige Antwort anschließen. Antigone kann uns heute vielleicht dringlicher denn je vermitteln, wie träge eine Gesellschaft sein kann und dass Gesetze manchmal nicht schnell genug an unsere heutigen Herausforderungen angepasst werden können. Aus meiner Sicht ist das in vielen Dingen so, virulentes Beispiel ist da etwa der Klimawandel. Wann muss der Staat, die Regierung von ihrem bisherigen Weg abrücken und etwas verändern, damit den Dringlichkeiten der Belange Rechnung getragen wird. Angesichts der vielen Krisen, die auf uns zurollen, sind wir meiner Meinung nach in der Pflicht, unser Demokratieverständnis immer wieder neu zu überprüfen.



Stefanie Göttlich: Frau Kirschmeier, sie sind Musikerin, Schauspielerin und Performerin. Bei „Antigone“ haben sie die musikalische Leitung übernommen. Welche Rolle spielt die Musik in der Inszenierung?

Svea Kirschmeier: In solchen alten, klassischen Texten liegt oft eine große Schwere, die eventuell Menschen abschrecken kann. Unser Wunsch ist es durch gesungene Lieder mit elektronischer Begleitung eine weitere Ausdrucksweise zur Übermittlung von Emotionen und Stimmungen zu zeigen, die Texte auf andere Art einzubetten. Die Lieder bewegen sich zwischen Pop, Electro und Singer/Songwriter und sind von mir komponiert und produziert.


Stefanie Göttlich: Es gibt viele Tote im Stück, die Handlung ist düster. Unterstreicht Ihre Musik diese Stimmung oder öffnet sie neue Deutungsebenen?

Svea Kirschmeier: Die Musik ist düster, melancholisch, klingt aber auch nach Aufbruch und Widerstand. Also so, wie die Welt klingt, in der wir aktuell leben.


Stefanie Göttlich: Kann Tragödie auch lustig sein? Gibt es zwischendurch Momente, bei denen das Publikum in Konstanz lachen kann?

Susanne Schmelcher: Antigone ist wahrscheinlich auch deshalb zur Weltliteratur geworden, weil der Text nicht nur zentrale Konflikte zwischen Menschen abbildet, sondern auch das Leben an sich. Und da ist es dann ja auch häufig so, dass selbst in den schlimmsten Situationen wahnsinnige, witzige Momente erlebt werden. In Antigone betrifft das zum Beispiel die Figur des Boten, aber auch andere Szenen und Stellen, wo man aus der Sprache eine Komik entwickeln kann. Ich suche da auch in meiner Arbeit gerne gezielt nach den Schnittstellen. Das Tragische sticht oft dann noch mehr heraus, wenn es davor komisch war.

Stefanie Göttlich: Haben Sie den Wunsch, dass die Menschen nach dem Stück anders aus dem Theater rausgehen als sie reingekommen sind?

Susanne Schmelcher: Auf jeden Fall. Das ist mein Anspruch an unsere Arbeit am Theater. Dass Menschen nach dem Theaterbesuch angefüllt sind – mit neuen Impulsen, einem Gemeinschaftsgefühl, weil sie mit anderen eine Erfahrung geteilt haben. Dass man über Demokratie und Streitkultur nachdenkt oder auch, dass die Konflikte sinnlich erleb- und begreifbar werden, die man zuvor nur in der Zeitung gelesen hat.

Interview mit der Anthropologin Carola Berszin

Interview mit Carola Berszin

Carola Berszin ist Anthropologin, Museumspädagogin und als offizielle Stadtführerin der Stadt Konstanz tätig. Sie beschäftigt sich in ihrer Arbeit intensiv mit antiken und mittelalterlichen Bestattungsritualen und der Befundung von menschlichen Skeletten. Im Auftrag des Landesamts für Denkmalpflege Baden-Württemberg leitete sie die anthropologische Untersuchung römischer und frühmittelalterlicher Skelette und die anthropologische Grabungsleitung am frühneuzeitlichen Friedhof Konstanz („alter Schottenfriedhof“), inklusive einer anthropologischen Voruntersuchung der Skelette. Anlässlich der Premiere von Antigone hat sich unsere Pressesprecherin Dani Behnke mit Carola Berszin zum Gespräch getroffen, um über Bestattungsrituale und deren Bedeutung zu sprechen. 


Dani Behnke: Für Regisseurin Susanne Schmelcher verweist Antigone auf einen Rechtsbruch des Staates, der dem Gesetz der Götter widerspricht – oder in heutigen Worten: seiner Verantwortung im Maßstab von Ewigkeit und Zukunft nicht gerecht wird. Herrscher Kreon verbietet Antigone die Bestattung ihres Bruders Polyneikes. Diese jedoch revoltiert, will lieber den Tod in Kauf nehmen als ihren Bruder nicht zu bestatten. Warum sind uns Menschen Bestattungsrituale so wichtig?

Carola Berszin: Antigone wurde im 5. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland verfasst. Damals hatten die Bestattungsrituale eine komplexere Bedeutung als heute. Die antiken Griechen hatten eine abweichende Vorstellung von dem, was sie nach dem Tod erwartete, und es gab soziale Unterschiede. Bei Antigone sollten wir die antiken Bestattungsrituale im Hinterkopf haben: Zuerst wird der Tote gewaschen und gekleidet und dann öffentlich aufgebahrt. Klageweiber, umgeben von Verwandten, jammern und raufen sich die Haare. Anschließend begibt sich der Trauerzug zur Grabstätte. Der Tote wird auf einem Wagen gefahren oder auf Schultern getragen. Wenn der Verstorbene in einem Krieg umgekommen ist, hat er zusätzlich Anrecht auf besondere Bestattungsfeierlichkeiten sowie eine öffentliche Lobpreisung. Bei Antigone geht es auch um die Frage, was man dem Verstorbenen und seinen Angehörigen genommen hatte, in dem man ihm ein Bestattungsverbot auferlegte und inwieweit das als Machtinstrument der Obrigkeit genutzt wurde. Durch das Bestattungsverbot war die Reise in den Hades, der die endgültige Behausung darstellte, verwehrt. Auch eine Reise über den Flüsse Styx und Acheron auf der Barke des Charon von der Welt der Lebenden in das Reich der Toten war nicht möglich. Für Antigone war es somit für ihre Trauerbewältigung wesentlich, dass ihr Bruder eine Bestattung mit den erforderlichen Ritualen erhielt. Es war die Pflicht von Angehörigem, dafür zu sorgen, dass die Toten die richtigen Riten erhielten. Ansonsten wäre der Geist dazu verurteilt, auf ewig umherzuwandern. Ohne Riten zu versterben, wurde als ein schlimmes Schicksal angesehen.

Ein Bestattungsritual bedeutet bis heute eine in der Regel würdevolle Verabschiedung vom Verstorbenen. In ihr zeigt sich die Wertschätzung gegenüber der Lebensleistung und der emotionalen Verbundenheit. Wir können uns aber heute entscheiden zwischen einem weltlichen, individuellen oder religiösen Bestattungsritual. In den verschiedenen Religionen und Kulturen ist es bis heute so wichtig einen Toten zu verabschieden. Besonders schlimm ist es für Angehörige eine Beerdigung ohne den Toten abzuhalten, sozusagen am „leeren Grab“ zu stehen. Der Tod bedeutet Abschied und Bestattungsrituale helfen bei der Trauerbewältigung.

 
Dani Behnke: Ist das Menschsein ohne Bestattungsrituale überhaupt denkbar?

Carola Berszin: Nahm man in früheren Zeiten dem Menschen ein Bestattungsritual, nahm man ihm unter anderem auch symbolisch das Menschsein. Hinweise auf Sonderbestattungen, um Menschen aus der Gemeinschaft über den Tod hinaus auszuschließen, können wir seit der Steinzeit nachweisen. Diesen verwehrte man neben einem regulären Grab auch die Bestattungsrituale. Ein weit verbreiteter Aberglaube war die Angst vor den Wiedergängern (Untoten). Man versuchte sich mit bestimmten Ritualen vor der rächenden oder schadenden Heimsuchung zu schützen. Auf mehreren Konstanzer Friedhöfen aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit finden wir archäologische Hinweise darauf, wie man einen sogenannten Untoten ans Grab binden kann. Ein berühmtes Beispiel aus Konstanz ist die Verbrennung von Jan Hus am 6. Juli 1415 als Ketzer. Im christlichen Glauben des Mittelalters galt die Verbrennung als die komplette Zerstörung des Körpers um unter anderem ein Nachwirken zu verhindern. Die Asche wurde ohne Bestattungsritual in den Rhein verstreut.


Dani Behnke: Seit wann sind Bestattungsrituale nachweisbar?

Carola Berszin: Archäologisch gibt es Hinweise auf Bestattungsrituale bis zurück in die Altsteinzeit. Ein in Deutschland berühmtes Beispiel ist die Bestattung einer Schamanin mit Kind aus dem heutigen Bad Dürrenberg, Sachsen-Anhalt, aus dem Ende der Mittelsteinzeit, circa 9000 Jahre alt. Die Frau besaß ein sehr reiches Beigabeninventar mit vielen Tierknochen. Das Grab war mit Ocker (Hämatit) ausgestreut. Es wurde als Färbemittel sowie zur Einbalsamierung Verstorbener verwendet. Dieses Ritual begegnet man in vielen steinzeitlichen Gräbern. Die rote Farbe des Ockers wird bei Erklärungsmodellen gerne in Verbindung mit der Farbe des Blutes gebracht. Man kann allgemein festhalten, dass in allen Zeiten und Kulturen die Menschen an ein Leben nach dem Tod glaubten. Um den Verstorbenen die Reise ins Jenseits zu ermöglichen, gab man ihm Proviant und persönliche Gegenstände mit ins Grab. Regelmäßige Totenrituale am Grab des Verstorbenen sind ebenfalls in bestimmten Epochen nachgewiesen.

 
Dani Behnke: Wie haben sich Bestattungsrituale und -formen in den Jahrhunderten verändert und entwickelt?

Carola Berszin: Bestattungsrituale hatten in den letzten Jahrtausenden in Europa immer wieder Wandlungen erfahren. Mal war die Brandbestattung vorherrschend und wurde dann immer wieder durch die Körperbestattung abgelöst. Galten in früheren Epochen Brandbestattungen als Übergangsritual, ist es heute eher eine Frage der Kostenminimierung bei der Beerdigung. Bis zu 80% lassen sich heute feuerbestatten. Bis zur Christianisierung gab es eine Beigabensitte. Je nach sozialem Stand konnten Schmuck und Bewaffnung mit ins Grab gegeben werden, die auch im Jenseits ihre Bedeutung hatten. Barockzeitzeitlich konnten Pilgerabzeichen mit ins Grab gegeben werden, um am Tag des Jüngsten Gerichts zu bezeugen, dass man ein gottgefälliges Leben geführt hat.
Heute werden auch gerne „Liebesgaben“ der Hinterbliebenen mit in den Sarg gelegt.

 
Dani Behnke: Welche Formen sind hier in Konstanz noch nachweisbar?

Carola Berszin: In Konstanz sind für die Römerzeit Körper- und Brandbestattungen nachweisbar. Ab dem Frühen Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit wurde körperbestattet. Die Friedhöfe befanden sich in der Altstadt. 1541 wurde der „alte Schottenfriedhof“ außerhalb der Stadtmauer eingeweiht und 1870 stillgelegt. Danach wurden die Konstanzer und Konstanzerinnen auf dem Hauptfriedhof beerdigt. In Konstanz gibt es heute sehr viele Möglichkeiten der Feuer- und Körperbestattungen, außer der Seebestattung sowie der Aschenverstreuung, diese sind nicht erlaubt. Bei der Körperbestattung kann man beispielsweise eine Aussegnung in der Trauerhalle und Ansprachen am offenen Grab wählen. Bei der Feuerbestattung wird die Urne im Allgemeinen nach der Trauerfeier auf dem Friedhof beigesetzt. Die Trauerfeier kann aber auch am aufgebahrten Sarg stattfinden, der dann im Anschluss eingeäschert wird. Ist keine kirchliche Beerdigung gewünscht, kann ein Trauerredner oder Trauerrednerin engagiert werden. Diese können aber auch aus der eigenen Familie bestimmt werden. Auf dem Hauptfriedhof in Konstanz kann man die Bestattungskultur der letzten 150 Jahre nachvollziehen. Zusätzlich gibt es zudem den israelitischen Friedhof und ein muslimisches Grabfeld. Es können ebenfalls nicht bestattungspflichtige Totgeburten („Sternenkinder“) auf einen eigenen Grabfeld beigesetzt werden.


Dani Behnke: Es scheint heute eine Abwendung von tradierten Ritualen zu geben, eine Hinwendung zu neuen Formen (Friedwald etc.). Wo könnten dafür die Gründe liegen?

Carola Berszin: Die Menschen scheinen schon immer das Bedürfnis gehabt zu haben, auch über ihren Tod hinaus ihr Begräbnis mitbestimmen zu wollen. Die Begräbnisse der vergangenen Zeiten gelten als Spiegelbild der Gesellschaft und ihren Umgang mit dem Tod und Religion. Heute findet das Sterben meistens in den Krankenhäusern, Pflegeheimen oder Hospizhäusern statt und weniger zu Hause. Der Tod in den Medien ist dagegen allgegenwärtig. Der sehr verbreitete Wunsch nach pflegelosen sowie anonymen Urnengräbern und Urnengemeinschaftsgrabstätten ist in der Regel die Bitte des Verstorbenen den Hinterbliebenen so wenig wie möglich zur Last zu fallen. Man wäre aber gut beraten schon zu Lebzeiten darüber zu sprechen, was die Hinterbliebenen für ihre Trauerbewältigung benötigen. In Deutschland herrscht nach wie vor der Friedhofszwang. Neue Formen wie Friedwälder gehören mittlerweile dazu. Zusätzlich kann man sich beispielsweise zum Erinnerungsdiamanten für die Hinterbliebenen aus der Asche pressen lassen. Heutzutage können viele Menschen in Europa individueller und freier leben. Dies spiegelt sich auch in den immer vielfältigeren Bestattungsritualen wider. Eine neue Möglichkeit stellt das „Reerdigung“ dar. Durch ein bestimmtes Verfahren wird der Körper bis auf die Knochen nach 40 Tagen zu Humus. Die Knochen werden zermahlen und dem Humus untergemischt. Danach erfolgt die Bestattung mit den gewünschten Ritualen. Auch heute hat die Obrigkeit die Macht – durch den gesetzlich vorgeschriebenen Friedhofszwang – Menschen ihren letzten Wunsch, wie Ausstreuung der Asche an seinem Lieblingsplatz zu Lebzeiten, zu verwehren.

Theater Konstanz
Foto: Ilja Mess
Theater Konstanz
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