Nach „Kabale + Liebe“ inszenierst du nun schon deine zweite Klassikerüberschreibung hier am Theater Konstanz. Was waren deine ersten Ideen zu „Faust. Der Tragödie nächster Fail“?
Juli Mahid Carly: Als ich über Goethes „Faust“ nachgedacht habe, hat mich zuerst die Geschichte des Gelehrten Faust interessiert. Der Mensch, der verzweifelt, weil es so wenig Sinnhaftigkeit gibt in seinem Leben. Daran können junge Zuschauer*innen genau wie ältere gut anknüpfen. Aber die Situation ist besonders nah dran an Menschen, die gerade mit der Schule fertig sind und überlegen, wie es nun weitergehen soll in ihrem Leben. Sie sind im Gegensatz zu früheren Generationen heute mit einem riesigen Überangebot an Möglichkeiten konfrontiert.
Gleichzeitig fehlen ihnen klare, gesellschaftlich vorgegebene Lebenszwecke wie „Du musst eine Familie gründen“ oder „Du musst deine Familie ernähren“ etc. Das ist natürlich einerseits etwas Gutes, viele Menschen freuen sich über diese Freiheit. Aber gleichzeitig begegnet uns durch diese Offenheit die Sinnlosigkeit, wie sie Heinrich bei Goethe beschäftigt, viel früher als noch vor einigen Jahrzehnten. Und eben nicht erst als altem Mann. Heinrich ist ja im Original mindestens 60 Jahre alt.
Der zweite inhaltliche Anknüpfungspunkt in Goethes Werk war die Gretchentragödie. Darin geht es um eine ganz merkwürdige Form von Liebesbeziehung, in der sich für mich Dinge widerspiegeln, wie „Pickup Artistry“ [Aufreißertum], das Nicht-auf-einer-Wellenlänge-sein, Gaslighting, also Manipulation oder eben schlicht und einfach das Phänomen, dass Menschen Sachen eingeredet werden, an die sie eigentlich gar nicht glauben. Hier werden also sehr gut Elemente sichtbar, die unbedingt verhandelt und reflektiert werden sollten. Über sie wird aber so gut wie gar nicht gesprochen, wenn junge Menschen in der Schule oder im jungen Erwachsenenalter ihre ersten (Liebes-)Erfahrungen machen – weder mit Lehrer*innen noch mit Freund*innen oder Eltern. Ich meine damit gar nicht, dass man auf den Gretchen-Stoff schauen soll, um etwas als richtig oder falsch zu beschreiben, sondern einfach, um problematische Dynamiken zu beobachten und wie schnell sie auftauchen können.
Was hat es mit dem Untertitel „Der Tragödie nächster Fail“ auf sich?
Juli Mahid Carly: Zunächst einmal wollte ich, dass der neue Titel so ähnlich klingen soll wie das Original: „Der Tragödie erster Teil“. Und dann habe ich im Schreibprozess einfach gemerkt, dass für mich das eine Wort „Fail“ am treffendsten zu den einzelnen Aspekten von Goethes Geschichte passt. Denn eigentlich sind alle Versuche, die Faust mit Mephisto startet, um glücklich zu werden, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Er verliert entweder seine Seele oder er wird nicht glücklich. Er kann die Wette nicht gewinnen. Das ist der vorprogrammierte „Fail“ in Goethes Stück – deshalb der Titel. Und auch, weil das „Scheitern“ auch etwas ist, mit dem sich junge Menschen nach der Schule und im frühen Erwachsenenalter beschäftigen müssen. Viele Träume und Ideen platzen, gerade wenn sie hoch angesetzt sind.
Was ist für dich in deinem Stück, das sich ja auch weit von Goethes Handlung wegbewegt, der größte „Fail“?
Heinrich kommt in meinem Stück an eine Akademie, an der sich auf eine merkwürdige Weise alle Lebensträume und privaten Wünsche auf einmal verwirklichen lassen. Das ist für mich ein ganz typischer „Fail“. Diese romantische Vorstellung, dieses „Ach, ich geh jetzt studieren“ oder „Ich komme auf ein Internat“, die ich auch von mir selbst kenne. Der Irrglaube, man könne sich dort neu erfinden, jemand anderes sein, extrem viel lernen, alle Talente entfalten, viele neue Leute kennen lernen, sich glücklich verlieben etc. Das ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt!
Was ist dir am Stück besonders wichtig?
Eine bestimmte Form queer-feministischer Haltung einfach in ein Stück zu implementieren, ohne es explizit zum Thema des Theaterabends zu machen. Wir sagen: Das ist jetzt das neue Normal – auf dieser Bühne, für die nächsten eineinhalb Stunden. Und alle Menschen im Raum akzeptieren das. Niemand stellt es in Frage. Warum auch? Wir erzählen ja einfach nur eine Geschichte mit typisch menschlichen Problemen. Dass das hier in Konstanz mit dem „Faust“ und mit diesem Ensemble möglich ist, schätze ich sehr.
Romana Lautner führte das Gespräch mit Juli Mahid Carly am 7. März 2025. Das ausführliche Interview, an dem auch Ausstatterin Sonja Hoyler beteiligt war, lesen Sie im Programmheft zur Produktion, erhältlich an unserem KulturKiosk und beim Einlass im Theater.