Ishbel Szatrawska und Alek Niemiro im Gespräch mit Dramaturg*in Annika Hilger
Annika Hilger: Was hat Euch zu dem Material und dem Thema von „Die Tiefe“ geführt?
Ishbel Szatrawska: Ich bin in dem Teil Polens aufgewachsen, der früher Ostpreußen war. In meiner Familie, die wie Jankas größtenteils aus Kriegsgeflüchteten bestand, hat nie jemand verschwiegen, dass diese Region früher
deutsch war. Ich war wie viele meiner Altersgenoss*innen, die in ehemals deutschen Gebieten geboren wurden, hin- und hergerissen zwischen dem Bild des Deutschen als Feind und der großen Ehrfurcht vor deutscher Architektur, Kultur und Industrie.
Auch habe ich mich schon immer sehr für die Geschichte Ostpreußens interessiert. Eigentlich schon seit der Zeit des Deutschen Ordens. Neben den großen landschaftlichen Unterschieden, haben wir zwar eine mit dem Rest Polens verbundene und doch separate Geschichte. Wir haben großartige Literatur, die sowohl auf Deutsch als auch auf Polnisch geschrieben wurde: Und egal, welche Autor*innen man liest, merkt man, dass stets eine völlig
andere Geschichte erzählt wird. Das hat mich immer sehr bewegt. Als ich erwachsen wurde, stellte ich fest, dass viele Freund*innen meiner Familie Deutsche waren oder sich selbst als Ostpreußen, Warmier, Masuren usw. identifizierten. Meine Großmutter hatte Nachbar*innen, meine Mutter Lehrer*innen und Freund*innen, die schon seit Generationen dort lebten. Einige meiner Freund*innen aus dieser Gegend kommen aus gemischten polnisch-
ostpreußischen Familien. Ich kann also nicht sagen, dass mich etwas Bestimmtes zu dem Stoff und Thema des Buches geführt hat. Tatsächlich habe ich fast mein ganzes Leben lang darüber nachgedacht, mich mit diesem Thema zu beschäftigen. Ich wusste nur nicht, wie. Und als ich 2018 mein Debüt als Schriftstellerin hatte, dachte ich, dass dies mein Ziel ist. Über meine Heimat zu schreiben. Ich muss es tun, auch wenn es das Letzte ist, was ich jemals schreibe.
Alek Niemiro: Ich habe das Material eher zufällig gefunden. Eine gute Freundin von mir ist Lektorin und hat mir den Roman empfohlen. Und als ich ihn dann gelesen habe, hat er mich eigentlich sehr schnell an meine Großeltern erinnert. Ich hatte beim Lesen immer das Gefühl, dass dies das letzte Gespräch ist, das ich mit meinen Großeltern führe und das hat mich noch mal darin bestätigt, diesen Stoff zu inszenieren.
Annika Hilger: Während unserer Proben haben wir viel darüber gesprochen, was Menschen dazu bewegt, zu schweigen und somit zu versuchen, ihre Vergangenheit zu vergessen, und was sie dazu bringt, sich zu erinnern –
beides hat Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen.
Ishbel Szatrawska: Seit 20 Jahren arbeite ich in einem jüdischen Museum in Krakau. Seit 25 Jahren bin ich in der jüdischen Gemeinde von Krakau aktiv. Ich habe genug über die Geschichte gelernt, um einige grundlegende Zusammenhänge und Regeln zu verstehen. Ich merke, wenn in einer Geschichte etwas fehlt, und ich bemerke es, wenn meine Großeltern die Geschichte ändern oder plötzlich versuchen, einen Teil dessen, was sie vor Jahren gesagt haben, zu löschen. Seit fast 30 Jahren weiß ich, dass ein Teil meiner Familie jüdisch ist.
Und erst vor einem Jahr gab meine Großmutter zu, dass es wahr ist. Ihr Vater durchlief drei Konzentrationslager, das letzte davon war Dachau. Er überlebte und kehrte nach Polen zurück, obwohl er schwer unterernährt und krank war. Ich habe 43 Jahre lang darauf gewartet, dass jemand in meiner Familie die Wahrheit sagt.
Unterscheidet sich das sehr von den Geschichten anderer Menschen meiner Generation? Ich glaube nicht. Egal, ob man über den Holocaust spricht, darüber, wie polnische Zivilist*innen von der Wehrmacht behandelt wurden,
wie deutsche Zivilist*innen von den Alliierten bombardiert und getötet wurden oder wie deutsche Frauen von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt wurden – im Grunde genommen ist es immer dasselbe: der Schmerz, das Trauma, die enormen Anstrengungen der Überlebenden, diese Last nicht auf die nächste Generation zu übertragen, auch wenn das bedeutet, zu schweigen oder sich nicht sicher zu sein, wer man ist und woher man kommt.
Ich glaube also, dass der Hauptgrund für das Schweigen einfach Angst ist. Man hat bereits gesehen, welche Folgen es hatte, wenn Menschen in deutsche Nazi-Konzentrationslager oder sowjetische Gulags geschickt wurden. Warum sollte man das Leben seiner Kinder und Enkelkinder seelisch riskieren, indem man ihnen die ganze Geschichte und den Kontext erzählt? Ich glaube, dass wir in vielerlei Hinsicht sehr intuitiv sind, wie wilde Tiere. Wenn wir in Gefahr sind, tun wir alles, um unsere Herde zu schützen.
Alek Niemiro: Janka ist in unserer Inszenierung ein sehr verschwiegener Mensch. Sie redet kaum darüber, was ihr passiert ist. Und trotzdem glaube ich, dass es Dinge gibt, die sie weitergegeben hat. Ich glaube, dass totales
Schweigen nicht funktioniert, weil es immer durchbrochen und über Generationen weitergegeben wird, in diesem Fall zwischen Alicja und Janka. Die Figuren, die in der Stückfassung vorkommen, sind generell Figuren, die
nie geredet haben und auch in der Literatur oder in Theaterstücken kaum vorkommen. Auch deswegen war es mir sehr wichtig, dass ihre Stimmen und Geschichten zu hören sind.
Annika Hilger: Auch wenn ein Großteil des Rom ans in der Vergangenheit spielt, knüpft er an viele aktuelle Ereignisse an und verbindet bewusst die Vergangenheit mit der Gegenwart. Wie setzt sich die Vergangenheit,
von der „Die Tiefe“ erzählt, in der Gegenwart fort?
Ishbel Szatrawska: Vorurteile, Krieg, Konflikte, Bombenangriffe, die Tötung von Zivilist*innen – all das umgibt uns. Von der Ukraine bis zum Gazastreifen, von Haiti über den Sudan bis nach Myanmar. Mein Bild der Menschheit ist eher düster. Ich glaube nicht, dass wir jemals lernen werden, friedlich miteinander zu leben. Die Geschichte der Menschheit ist ein langer Weg voller Gewalt und Mord. Ich habe jedoch einen ganz bestimmten Moment in der Gegenwart gewählt, da es sich in Polen um eine Reihe sehr intensiver Ereignisse handelt.
Die Pandemie, die Hilflosigkeit der Gesellschaft, die halbautoritäre Regierung und obendrein die Zurückweisung von Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze. Sowohl bei Max als auch bei Alicja habe ich mir nicht nur über die Kontinuität von Gewalt und Tod Gedanken gemacht, sondern auch über die Angst normaler Bürger*innen und die Unfähigkeit, sich gegen das System zu stellen, die Angst, die eigene Meinung zu sagen, Forderungen zu stellen. Und das meine ich nicht negativ. Wir sind alle Menschen, nicht jede*r hat den Mut oder die Mittel, sich zu äußern. Mein ganzes Leben lang habe ich nicht nur in Polen gehört, dass die deutsche Gesellschaft von den Nazis manipuliert wurde und dass die Bürger*innen, insbesondere die Mittelschicht, die ersten waren, die wegschauten. Als ich das Buch um 2022 herum schrieb, fragte ich mich: Wie unterscheiden wir uns von den Bürger*innen des Dritten Reichs? Wie können wir sie verurteilen, wenn wir selbst nicht stark genug sind, zu protestieren, obwohl wir nicht in Gefahr sind, getötet oder in ein Konzentrationslager geschickt zu werden? Und ja, ich bin mir völlig bewusst, dass ich mich damit von der großen Mehrheit der polnischen Gesellschaft distanziere, die meine Worte wahrscheinlich als Blasphemie betrachten würde.
Alek Niemiro: Ich glaube, dass sich die Vergangenheit dadurch fortsetzt, da wir momentan merken, merken, dass vieles aus der Vergangenheit, besonders aus der Zeit um 1945, eigentlich nie wirklich aufgearbeitet wurde. Dadurch, dass immer mehr Menschen dieser Generation, die alles erlebt haben, versterben, nehmen sich neue Generationen wieder des Themas an, aber verwässern und biegen es sich so zurecht, wie sie es gerade brauchen. Da ist die AfD das beste Beispiel, wie sie versucht, Geschichte neu zu definieren. Das, was in
der Vergangenheit passiert ist, hat so viel mit der Gegenwart zu tun, weil wir nämlich jetzt dafür kämpfen müssen, dass man sich an die Vergangenheit erinnert und eben auch richtig erinnert. Dabei geht es mir gar nicht um Schuld, sondern um Erinnerung.
Annika Hilger: Ishbel, inwieweit hat deine Tätigkeit als Theaterautorin das Schreiben des Romans beeinflusst?
Ishbel Szatrawska: Ich glaube, der Einfluss war enorm. Die Art und Weise, wie ich mir eine Handlung, die Figuren, ihre Entwicklung, die Dialoge und deren Ablauf vorstelle – all das hat seine Wurzeln im Schreiben von Theaterstücken, ganz zu schweigen davon, dass der Erzähler oft zur inneren Stimme der Figuren wird, sodass dieser tatsächlich oft Monologe hält: von Max, Alicja, Wolf und, in geringerem Maße, von anderen.
Annika Hilger: Alek, welche Entscheidungen musstest Du bei der Adaption des Romans treffen? Was war Dir besonders wichtig?
Alek Niemiro: Unser Hauptaugenmerk liegt auf der Geschichte von Alicja und Janka, die sich eigentlich nie auf Augenhöhe begegnen können, weil sie einen großen Altersunterschied haben. Doch sie sind auch durch ihre gemeinsame Vergangenheit miteinander verbunden. Die zweite Beziehung, auf die ich mich fokussiert habe, ist die sehr berührende Geschichte von Wolf, dem Sohn von Janka, und von Alicja, seiner Tochter. Dieser Generationenkonflikt hat mich sehr an mich und meine Eltern erinnert. Besonders Wolf als Repräsentant seiner
Generation finde ich spannend erzählt, da er seine Gefühle zulässt und in den Dialog geht, so wie es meine Eltern auch immer mit mir getan haben.
Annika Hilger: Alek, hast Du eine Frage an Ishbel?
Alek Niemiro: Gab es im Roman jemals die Möglichkeit eines Happy Ends für Alicja oder Max? Und war das tatsächliche Ende des Romans überhaupt ein Happy End?
Ishbel Szatrawska: Es ist tatsächlich kompliziert. Im Roman scheint es für Jarek, den Partner von Alicja, wie ein Happy End. Doch für Alicja sieht es anders aus. Schauen wir mal: ein Partner, der sich nicht entscheiden kann, ob er sich niederlassen will oder nicht, eine mögliche Schwangerschaft in einem Land – wir befinden uns immer noch im von der PiS regierten Polen – in dem man bei einem Schwangerschaftsabbruch verfolgt wird, und in dem es an vorgeburtlicher Betreuung in Krankenhäusern mangelt. Obendrein eine Situation an der Universität, in der die Politik die Universitäten zwingt, sich an die staatlichen Auffassungen von Geschichte und Erinnerung anzupassen. Kein Happy End, wenn Du mich fragst.
Ich glaube nicht, dass es für Max jemals die Möglichkeit eines Happy Ends gab. Als ich den Roman schrieb, stellte ich mir vor, dass ich eine Aufgabe zu erfüllen hatte, ähnlich wie Regisseur*innen, wenn sie mit Schauspieler*innen arbeiten. Und diese Aufgabe bestand darin, mich in die Situation oder meine Vorstellung davon hineinzuversetzen, also die Geschichte eines Mannes zu erzählen, der innerlich zerrissen ist. Er wurde vor Hitlers Herrschaft geboren und wuchs unter dem Bildungssystem der Weimarer Republik auf, trat jedoch im Dritten Reich ins Erwachsenenalter ein. Eine solche Figur sieht den Totalitarismus, versteht seine Mechanismen, ist mit den Geschehnissen unzufrieden und sieht den Terror auf vielen verschiedenen Ebenen. Gleichzeitig kann er als Erwachsener im Dritten Reich der Propaganda nicht vollständig entkommen. Einige seiner Äußerungen sind strenge Lehrbuchbeispiele für die Verkörperung
dieser Ideologie. Dennoch ist er mein Lieblingsheld in dem Buch, denn so sehr ich auch mit seinen Überzeugungen, seiner Einstellung oder seinen Entscheidungen nicht übereinstimme, machen ihn seine Fehler umso menschlicher.
Was Alicja betrifft: Am Ende des Buches besteht Einigkeit darüber, dass das Paar eine Lösung finden muss. Das ist ein kleiner Hoffnungsschimmer in einer Situation, die ansonsten eher düster und politisch beunruhigend ist.
Wird es für sie funktionieren? Wir werden es nie erfahren.
Annika Hilger: Ishbel, hast Du eine Frage an Alek?
Ishbel Szatrawska: Ja, eigentlich sind es drei zusammenhängende Fragen: Warum hast Du Dich entschieden, dieses Stück in Deutschland statt in Polen zu inszenieren? Glaubst Du, dass diese Geschichte für das Publikum im heutigen Deutschland relevant sein könnte? Gibt es in Deutschland überhaupt eine Diskussion über die Vertriebenen, abgesehen von denen, die mit der AfD sympathisieren? Ich erinnere mich daran, W.G. Sebalds „Luftkrieg und Literatur” gelesen zu haben und an seine eindringliche Aussage, dass die Deutschen als Gesellschaft, es sich aufgrund ihrer Schuldgefühle für die Verbrechen des NS-Regimes nie erlaubt hätten, ihr Kriegstrauma zu verarbeiten. Diese Aussage hat mich viel beschäftigt, und ich dachte, dass es in gewisser Weise unsere Pflicht ist – die der Nachkommen der Opfer des Dritten Reiches – uns an die deutschen Opfer des Krieges zu erinnern. Andererseits ist dieser Gedanke vielleicht gerade jetzt irrelevant, angesichts der Tatsache, dass die AfD und andere rechte Parteien in ganz Europa auf dem Vormarsch sind. Ich weiß es nicht.
Alek Niemiro: Ich wollte dieses Stück unbedingt in Deutschland machen, da es hier eine riesige Lücke von polnischen Geschichten gibt. Neben russischen, türkischen und seit einigen Jahren auch syrischen Menschen, sind Pol*innen eine der größten migrantischen Gruppen in Deutschland. Und sie kommen in den meisten kulturellen Diskussionen gar nicht vor, weil sie in der Masse leider gut untergehen können. Zweitens war es mir wichtig, auch weil es in Deutschland an sehr vielen Stellen resoniert, das ostpreußische Thema zu zeigen und dabei auch, dass die Schuld nicht so klar abgegrenzt ist, wie man es sich immer vorstellt – dass es genauso auf der polnischen Seite, wie zum Beispiel mit Marcin, Leute gab, die schlimme Sachen gemacht haben. Ich glaube, dass man für ein gutes Geschichtsverständnis alle Perspektiven einbeziehen muss. Die deutsche Diskussion über die Vertriebenen ist in den letzten Jahren leider zurückgegangen, weil viele der Vertriebenen nicht mehr leben. Das Thema wurde von rechten Parteien gekapert und deswegen finde ich es auch wichtig, dass man es sich zurückholt. Aber man muss dazu auch sagen, dass unter anderem Helmut Kohl 1988 die Oder-Neiße-Grenze nicht anerkennen wollte, aus Angst, Wähler*innenstimmen der Vertriebenen zu verlieren. Es geht dabei auch um die Absurdität von Grenzen und wie auf einmal gewisse Teile, die damals zu Deutschland gehört haben, plötzlich polnisch und andere Teile, die polnisch waren, ukrainisch oder sowjetisch und später belarussisch
wurden. Und ich glaube, deswegen ist die Diskussion heute besonders auf einer faktischen Ebene wichtig, da sie zeigt, wie absurd es ist, Grenzen zu ziehen. Sie regt an, darüber nachzudenken, dass alle Grenzen, die wir gezogen haben, nur für eine bestimmte Zeit gelten, und man darf nie glauben, dass es für immer so bleibt.