Annika Hilger: „Vater“ erzählt das Erleben einer Demenz aus der Sicht des Betroffenen. Was interessiert Euch an diesem Stück?
Johann Brigitte Schima: Als Mia und mir „Vater (Le Père)“ vorgeschlagen wurde, wollten wir das Stück unbedingt machen. Für uns, und ich glaube auch für jede*n im Publikum, erinnern bestimmte Momente im Stück an eigene Erfahrungen. Dieses Wiedererkennen hat mich überzeugt. Es führt dazu, anders darüber nachzudenken oder mit anderen sprechen zu können über Dinge, die sonst eher ungesagt bleiben, weil sie angsteinflößend, unangenehm oder unpassend komisch sind.
Ingo Biermann: Mich interessiert das Leben aus der Sicht des Demenzkranken. Aber mir gefällt auch, dass die Geschichte trotz der Thematik mit vielen humoristischen Situationen gespickt ist und so etwas Leichtigkeit in der Schwere des Stückes Platz finden darf.
Anna Lisa Grebe: Ja, das gesamte Stück birgt eine ganz besondere Form der Komik. Humor ist für mich immer ein sehr intensives und schönes Mittel, sich mit Themen zu beschäftigen, die viel Schwere in sich tragen. Was mich als Spielerin an dem Stück interessiert, ist vor allem die Arbeit in einem durchaus realistischen Bühnenbild, das eine naturalistische Spielweise erfordert, während zugleich eine konstante Verschiebung der Bewusstseinsebenen stattfindet.
Mia Constantine: Mich hat vor allem die Dramaturgie des Textes gepackt: diese konsequente Erzählung aus der Perspektive der Hauptfigur, der Blick aus der „Krankheit heraus“. Wir spüren m it André, was es heißt, langsam sein Gedächtnis und seine Erinnerung zu verlieren. Durch gekonnte Zeitsprünge verlieren wir das Gefühl für Zeit und Ort. Diese daraus entstehende Spannung hat mein Interesse für den Text geweckt.
Annika Hilger: Was hat „Vater“ für Euch mit unserer „Klasse Gesellschaft“ zu tun?
Jonas Pätzold: Ich glaube, fast jede*r von uns kennt inzwischen Menschen, die betroffen sind – und es werden in unserer alternden Gesellschaft eher noch mehr werden. Deshalb halte ich es für so bedeutsam , das Thema auf die Bühne zu bringen. Menschen mit Demenz sind oft weniger sichtbar. Umso wichtiger ist es, ihre Realität auf der Bühne zu zeigen.
Mia Constantine: Das Stück kann eine Debatte über den Umgang mit pflegebedürftigen Angehörigen eröffnen. Wie wollen wir mit nahestehenden Familienmitgliedern umgehen, die unsere Hilfe benötigen? Welche Rolle spielt die finanzielle Situation in Bezug auf Pflege? Welche Unterstützung bekommen wir und wie schaffen wir Räume für Austausch?
Maria Lehberg: Jedes Jahr erkranken immer mehr Menschen an Demenz und ältere Menschen werden oft nicht gehört oder sogar abgewertet. Ob man Unterstützung bekommt, hängt stark vom Einkommen und vom eigenen Netzwerk ab. Das Thema Demenz betrifft immer mehr Menschen, als man anfangs denkt, wie zum Beispiel die Angehörigen oder Menschen in Pflegeberufen.
Johann Brigitte Schima: Selbst in der finanziell anscheinend sorgenfreien Situation, in der sich André und Anne befinden, ist es nicht leicht, eine Pflege zu organisieren. Der Umzug in ein Pflegeheim bedeutet Desorientierung für den Patienten und geht mit dem schlechten Gewissen der Tochter einher. Wie wir als Gesellschaft, im Familienverband und als Individuen mit dem beinahe unvermeidbaren Verlust von Selbstständigkeit, Handlungsfähigkeit und Macht im Alter umgehen wollen und können, wird in unserer Gesellschaft erstaunlich wenig diskutiert. Dabei wird es uns doch wirklich alle betreffen.
Anna Lisa Grebe: André versucht an einer Autorität oder Vorstellung von Ordnung festzuhalten, die einfach nicht mehr funktioniert. So wird aufs Genaueste gezeichnet, wie leistungsgeprägt unsere Gesellschaft ist. Das Stück zeigt auf, wie schnell Menschen aus der Gesellschaft fallen, wenn das Leben andere Pläne hat und sie nicht mehr so funktionieren, wie erwartet.
Johann Brigitte Schima: Diese Patriarchen, die ihr Erwerbsleben lang glauben, selbständig zu sein, weil sie nie bemerken, wie viel Arbeit und Organisation für sie erledigt wird. Und plötzlich können sie ihren Teil des patriarchalen Gesellschaftsvertrags nicht mehr erfüllen und die Abhängigkeit von anderen fällt ihnen schlagartig auf und auf die Füße. Bei allem sich daraus ergebenden tragischen und komischen Potential kann man doch nur schlussfolgern: Ja, das Patriarchat ist für alle Beteiligten Scheiße, früher oder später.
Annika Hilger: Welche (neuen) Fragen habt Ihr Euch während der Arbeit an dem Stück gestellt?
Odo Jergitsch: Was ich mich immer wieder während der Arbeit gefragt habe, ist, wie sehr Demenz mit seelischen Verletzungen verknüpft ist und wie Lebensumstände den Verlauf prägen. Kränkungen können zu Mechanismen des Selbstschutzes werden. Als Schauspieler versuche ich, diese Momente und Strukturen bei André zu finden.
Johann Brigitte Schima: Die Auseinandersetzung mit dem Rätsel- und Wellmade-Play-Charakter des Stücks hat viel Spaß gemacht. Man sucht ständig nach einer logischen Reihenfolge. Doch der Text ist gut genug, dass er das nicht zulässt. Immer verschiebt ein kleines Detail alles.
Sylvana Schneider: Ich habe viel über die Pflegesituation in Deutschland nachgedacht: Wie privilegiert muss man sein, um würdig gepflegt zu werden? Und ich habe mich auch damit beschäftigt, welche Therapie- oder Unterstützungsangebote
es für Angehörige gibt und wie gut diese erreichbar sind.
Mia Constantine: Mir hat sich auch immer wieder die Frage gestellt, wie wir mit der Pflege von nahestehenden Angehörigen umgehen wollen. Welche Formen der Unterstützung gibt es – auch außerhalb des Familienverbands? Und wie sieht ein guter Umgang mit Demenzkranken aus?
Annika Hilger: Welche Herausforderungen und Spielräume ergeben sich aus der Arbeit an der Inszenierung?
Sylvana Schneider: Eine besondere Herausforderung ist die zerstückelte Chronologie. Man spielt die eigene Rolle aus Andrés Perspektive und fragt sich ständig, welche Wahrheit gerade gilt.
Jonas Pätzold: An dieser Inszenierung ist für mich neu, dass es einen zweiten Spieler gibt, der dieselbe Figur verkörpert. Natürlich spielen wir sie unterschiedlich und imitieren uns nicht. Aber es ist schon lustig zu wissen, dass Ingo meine Rolle spielt, während ich nicht da bin und andersherum.
Johann Brigitte Schima: Zum ersten Mal seit langem wieder eine Ausstattung für eine fast realistische Welt zu entwerfen, Kostüme für Figuren, die Leute sind wie wir, aber dann auch wieder nicht, weil es einige von ihnen mehrmals gibt oder sie mehrere Gesichter haben – das hat Spaß gemacht. Genauso wie das Requisiten-Ballett, das einen spielerischen Realismus bedeutet … Raten Sie mal, wie viele Wassergläser an diesem Abend mitspielen.
Mia Constantine: Der Realismus, der sich durch psychologisch-realistische Dialoge herstellt, war für mich eine besondere Herausforderung. Gleichzeitig hat die Szenenfolge keine zeitliche Kontinuität und stellt sich so gegen jede logische Anschlussstelle. Die Aufgabe innerhalb der Szenen war, immer wieder ganz neu anzusetzen und nichts aus den vorigen Szenen mitzunehmen. So entsteht eine merkwürdige Leichtigkeit, die die Figuren wahrhaftig in den Szenen agieren lässt. Durch diese Leichtigkeit haben wir als Zuschauende die Chance, uns wiederzuentdecken und uns in den Figuren zu spiegeln. Und dafür bietet der Text viel Spiegelfläche.