Lea Seiz: Der Roman „Tauben fliegen auf” von Melinda Nadj Abonji ist 2010 erschienen und hat den Schweizer und Deutschen Buchpreis erhalten. Die Entscheidung, diese Erzählung in den Spielplan aufzunehmen, ist uns inhaltlich leichtgefallen. Glen, was hat Dich als Regie als Allererstes an diesem Roman angesprochen?
Glen Hawkins: Eine zentrale Faszination war für mich, wie „Tauben fliegen auf“ Erinnerungen in einen sprachlichen Raum verwandelt und welche Möglichkeiten sich für eine szenische Übersetzung daraus ergeben. Gerade zu Beginn habe ich mich gefragt: Was steckt alles in dieser Erinnerung, die zugleich eine Abrechnung mit einer Kindheit und einer gegenwärtigen Lebenssituation ist? Welche Art von Beschwörung einer verlorenen Vergangenheit findet hier statt? Dabei geht es nicht nur um das Erwachsenwerden und den damit verbundenen Verlust der Kindheit, sondern vielmehr um das Ankommen in einer neuen Sprache und einem neuen sozialen Kontext – ein Prozess, der die eigene Vergangenheit, die zum Narrativ wird, zu überdecken oder gar auszuradieren droht. Es ist ein Vorgang, der nicht linear verläuft, sondern vielmehr in Zeitsprüngen, Brüchen und Wiederholungen geschieht. Die Erinnerung formt sich im Erzählen selbst und verändert (sich). Es geht keineswegs darum, die Zerrissenheit dieser Geschichte zu glätten, sondern vielmehr darum, ein Kaleidoskop aus Stimmen, Orten und Zeiten erlebbar zu machen und mit der Angst
vor dem Vergessen zu ringen.
Mit wenigen Worten: Worum geht es in „Tauben fliegen auf“? Und bleibt dieser Kern in unserer Monologversion erhalten?
Sprache, Familie, lange Autofahrten, das Getränk „Traubisoda“, Identitätscrash und Ankommen (oder nicht und was bedeutet das überhaupt?). Und ich hoffe, dass der Kern erhalten bleibt, das wäre zumindest das Ziel.
Der Roman umfasst circa 300 und unsere Theaterfassung knapp 30 Seiten. Wie würdest Du die Aufgabe beschreiben, diesen Roman für eine Bühne zu adaptieren und dann auch noch als Einpersonenstück zu erarbeiten? Worauf hast Du Dich fokussiert?
Die Aufgabe diesen Roman zu adaptieren, bedeutete für mich vor allem eine Verdichtung der Erzählung, ohne dabei ihre Tiefe und Mehrschichtigkeit zu verlieren. Besonders herausfordernd war es, die Erzählweise und Sprachlichkeit beizubehalten und dennoch eine klare dramaturgische Linie für die Bühne zu entwickeln. Letztlich war es unser Ziel, nicht nur eine lineare Nacherzählung der Handlung zu schaffen, sondern den Text vielmehr als eine Erinnerungslandschaft zu betrachten und sich ihm als solche anzunähern. Heißt konkret, dass Erinnerungen unbemerkt auftauchen, sich überlagern, sich mit Reflexionen vermischen und dass die persönliche Geschichte der Hauptfigur Ildikó zu einem kollektiven Erleben von Migration, Sprache, Identitätskonflikten und der Suche nach Zugehörigkeit wird.
Wir haben öfter darüber gesprochen, dass sich die Erzählerin Ildikó zwischen mehreren Welten hin- und hergerissen fühlt. Welche Welten sind das und findet sie eine Lösung mit diesem Konflikt umzugehen?
Die Welten, die Ildikó durchlebt, stehen in einem engen Bezug zu einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit, was eine fragile Konstruktion aus Sprache und Geschichte ist und immer neu erschaffen werden muss. Einerseits gibt es das alte Zuhause ihrer Familie in der Vojvodina, andererseits ihr Leben in der Schweiz. Ihre Erinnerungen an die Vergangenheit überlagern ihr Leben in der Gegenwart und gleichzeitig muss sie sich ständig gesellschaftlichen Erwartungen stellen, um Anerkennung zu finden. Und zugleich droht das Leben in der Schweiz einen Teil ihrer Identität, also ihre Wurzeln, Kindheit und Beziehungen zu Verwandten wie der Großmutter, zu überschreiben. Der Konflikt zwischen Herkunft und Zukunft, Familie und Selbstbestimmung bleibt bestehen. Die Vergangenheit ist nicht nur ein Ort, sondern auch ein Zustand der Unsicherheit. Die Rückkehr zur Großmutter Mamika zeigt, dass sich das Zugehörigkeitsgefühl nicht an äußeren Orten festmacht, sondern an Menschen und den Erinnerungen, die sie hinterlassen. Doch indem sich Ildikó erinnert und ihre Geschichte – in unserer Arbeit – nachspielt, nimmt sie ihr Schicksal in die eigene Hand. Sie kann die Vergangenheit nicht hinter sich lassen, aber sie kann sie neu verhandeln. Am Ende bleibt ihr Aufbruch als Versuch, sich selbst zu definieren und sich von ihrem bisherigen Schicksal zu emanzipieren.
Warum lohnt es sich gerade jetzt, diese Geschichte auf der Bühne zu erzählen?
Die Angst, dass Geschichte ausradiert oder verdrängt wird, ist ein zentrales Motiv des Stücks. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen politischen und kulturpolitischen Debatten darüber, welche Geschichten erzählt werden sollen – und der gleichzeitigen Rückkehr zu altbekannten Narrativen – empfinde ich einen großen Wunsch, sich einem solchen Text zu widmen und damit dagegen zu wirken.