Gedanken zu Kristo Šagors Inszenierung von „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ am Theater Konstanz
19:45 Uhr, das zweite Zeichen. Die Stimme des Inspizienten tönt blechern aus dem Lautsprecher in den Garderoben. Sie nennt die Uhrzeit und erinnert daran, dass es nur noch 15 Minuten bis Vorstellungsbeginn sind. Währenddessen sitze ich an meinem hölzernen Tischchen, das so niedrig ist, dass meine Beine darunter keinen Platz finden, ich also nicht wirklich daran sitzen kann. Ich sehe mir stattdessen auf die Schuhspitzen. Sie sind frisch poliert. Im Geist gehe ich die letzten Punkte der Kritik unseres Regieassistenten an der letzten Vorstellung durch. Kleine Abweichungen von spieltechnischen Verabredungen, einzelne Hinweise auf ein versehentlich verändertes Timing hier und dort. Weil sich so etwas im Lauf der Vorstellungen schon mal verändern kann. Manchmal zum Guten, meistens zum Schlechten. Ich frage mich, ob George zu Stückbeginn nicht eigentlich ganz mattes Leder an den Füßen tragen müsste, nach einem langen Abend des Feierns im Haus seines Schwiegervaters. Um zwei Uhr morgens. Denn an diesem Punkt beginnt das Stück. Ich sehe ein, dass diese Frage keine Antwort braucht und atme tief ein, während ich aufstehe, das Textbuch und die Flasche Wasser in der Hand, um mich in den oberen Stock auf die Hinterbühne zu schleppen. Immer diese unerklärliche Müdigkeit vor Beginn der Vorstellung. Als wollte mein Körper instinktiv in den Fluchtschlaf, weil er ja schon weiß, was die kommenden zwei Stunden und zehn Minuten auf ihn zukommt. Aber der Geist ist wach.
Mit einem letzten Blick über die Schulter knipse ich das Licht aus und verlasse in Kostüm und Maske den Raum, in leicht unterspannter Konzentration und mit verstohlener Vorfreude auf die Begegnung mit Jana, Sarah und Julian, die mit mir in die Bühnensituation schlüpfend, die nächsten zwei Stunden und zehn Minuten etwas (er)leben werden, das einerseits ganz fern von uns und andererseits ganz das ist, was wir sind. Oder wurden?
Vor zwei Wochen, während der sonntäglichen Veranstaltung der Konstanzer Theaterfreunde zu unserer Inszenierung von „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ wurde den Darsteller*innen die Frage gestellt, ob der Moment, in dem man nicht mehr an Verabredungen denkt der sei, in dem man in diesem Menschen, den man portraitiert, ganz aufgeht, in ihm zu Leben anfängt. Die Amalgamierung von Mensch und Moment?
Das Bühnenbild, ein dünnes, stilisiertes Gerippe eines Hauses, steht geduldig im Dunkeln der Bühne und hält sich noch bescheiden im Hintergrund. Die Requisiten eingerichtet, machen wir letzte Scherze, die uns wie ganz nebenbei, ohne, dass wir es jemals so benannt hätten, eigentlich zeigen sollen, dass wir im gemeinsamen Groove sind. Wir sind Sparring Partner, noch vor dem ersten Auftritt, machen ironische Kommentare und benutzen Textpassagen aus dem Stück. Vier improvisierende Spieler*innen, die hinter dem Vorhang, bisher nur unter sich, den Ton für den Abend definieren, der es dem Publikum und zu einem kleinen Teil auch uns möglich machen wird unter anderem zu glauben, dass sich Martha und George schon seit über zwanzig Jahren kennen, Nick und Süße aber erstmals heute Abend auf sie stoßen werden. Die beiden Neuen bei den beiden Alteingesessenen.
Wie spielt man die Biographie seiner Figur? Läuft das nur über den Text? Wann wissen Schauspieler*innen wann sie etwas „behaupten“ müssen? Müssen sie das überhaupt? Ist das nur eine Frage der Besetzung, deren Antwort die Leitung des Theaters für einen übernimmt? Wie internalisiert man eine Figur, die Idee eines Autors/einer Autorin von einem Menschen? Passiert dieser Prozess durch den/die Schauspieler*in allein?
Da ist diese Papierhülle aus Buchstaben, die man sich überzieht, die man versucht auszufüllen. Und dann wächst man darin, wie in einem Kokon. Und dann wird er zu klein, dieser Kokon. So klein, dass man ausbrechen muss, unter Beobachtung der Regie und der Kolleg*innen. Und wenn sich alles fügt, entsteht was Neues, Größeres. Dann ist man vielleicht maximal bei sich und bei der Situation, in der sich die Figur bewegt. Irgendwann verschwimmen alle Grenzen. Keiner weiß mehr so genau, wer was wann wie und wo getan hat, damit da dieses Ding auf der Bühne atmet, alles von allem inspiriert, beeinflusst, verändert, aufgehoben, erneuert, gefunden und letztlich erfunden.
Es ist vier Minuten vor Beginn. Die Stimmen der Zuschauer, größtenteils auf ihren Plätzen, dringen durch den anfänglich heruntergefahrenen tonnenschweren Eisernen Vorhang. Ein Euphemismus. Es ist eine blecherne Barriere, wie ein riesiges Garagentor, die im Brandfall durch den Bühnenboden rauscht und den Zuschauerraum zuverlässig vom Bühnenraum separiert. Ein plötzlicher Vorgang mit diesem Vorhang, der ein Geräusch produziert, so laut und verstörend wie es kaum jemand am Theater je gehört haben wird. Eine klare Trennung des Innen vom Außen aus Sicherheitsgründen. Während die Trennung der Darsteller*innen von ihren Rollen und die Trennung vom Vorgang des Beobachtens und Beobachtetwerdens schon gar nicht mehr möglich ist. Jeder Sicherheitsaspekt obsolet. Wie der Blick in den Text zu diesem Zeitpunkt auch. Die Amalgamierung von Mensch und Moment.
Ein letztes „Achtung“ von Bernd, unserem Inspizienten, Umarmungen und Glückwünsche für die Vorstellung, die Beleuchtung setzt das Anfangslicht, das Gerippe des Hauses erstrahlt entlang seiner Stahlstreben, hell, kalt und seltsam hostil. Das Garagentor hebt sich mit Getöse.
Dann findet, heimlich vorbereitet, aber jeden Abend aufs Neue, frisch, neu und in jeweiliger Tagesverfassung der Künstler*innen etwas Unerklärliches und Unerhörtes statt. Die Zuschauer*innen werden Zeuge des Unmittelbaren, das nur durch sie seine Magie bekommt, denn jede Vorstellung atmet erst durch das Publikum. Der Moment erhält seinen Wert erst durch die Veröffentlichung. Ein Autor, der nicht publiziert, ist keiner. Ein Maler ohne Ausstellung verfehlt den Sinn seiner Tätigkeit. Theaterschauspieler*innen hingegen sind schon während ihres live stattfindenden Schaffensprozesses auf das Publikum angewiesen, das je nach ästhetischer und inhaltlicher Entscheidung der Regie von ihnen scheinbar ignoriert, aber doch zu hundert Prozent wahrgenommen wird.
Und deshalb kann am Ende in glücklichen Zusammenkünften wie in diesen etwas entstehen, was einen sogar über den eigenen Garderobentisch hinauswachsen lässt.
Ein letzter Blick auf meine polierten Schuhspitzen und Martha und George treten auf.
Text von Patrick O. Beck, der die Rolle des George in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ am Theater Konstanz spielt.